Felix Schilk
Sie haben vor der russischen Vollinvasion der Ukraine Sommerlager für den Führungsnachwuchs in verschiedenen russischen Regionen besucht und Interviews mit Teilnehmenden geführt. Was sind das für Veranstaltungen?
Die Sommercamps bieten Unterhaltungs-, Freizeit- und Schulungsangebote abseits der Städte und richten sich an junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren. Durch unzählige Verhaltensvorschriften und einen stark strukturierten Tagesablauf erinnern sie an sowjetische Pionierlager. Anders als zu Sowjetzeiten spielen politische Lektionen aber kaum eine Rolle. Bei den Camps lernt man eher Fertigkeiten, die man als neoliberal bezeichnen kann: Wie strukturiere ich ein Projekt? Wie organisiere ich meine Zeit? Wie präsentiere ich meine Ideen, damit Investoren oder Politiker sie fördern?
Sie bezeichnen Russland als Land der informellen Kontakte. Welche Rolle spielen die Sommerlager dabei?
In Russland funktioniert die Wechsel der Funktionseliten wegen der vielen informellen Netzwerke nicht gut und es gibt ein staatliches Interesse, das zu ändern. Die Camps sollen die Teilnehmenden dazu befähigen, Start-ups zu gründen und um öffentliche Fördergelder zu konkurrieren. Das ist auch ein Versuch, eine loyale, aber trotzdem aktive Bürgerschaft zu formen. Die Camper, mit denen ich gesprochen habe, sind oft in der Hoffnung hingefahren, dass sie dort sozusagen entdeckt werden. Im Russischen wird dafür die Metapher des sozialen Aufzugs verwendet – man steigt ein und fährt automatisch nach oben. Ich hatte einen Interviewpartner, der hielt eigentlich gar nichts von diesen Camps. Er war nur dort, um Kontakte zu knüpfen, um nach dem Studium eine Stelle zu finden. Es gibt Strategien, die sich bewährt haben, wenn man in Russland aufsteigen will. Das zieht die Leute an.
… so wie die sogenannten Selbstjustizunternehmer – vigilante entrepreneurs – der Aktivistengruppe Stop Cham (Stop Rudeness), die Sie untersucht haben?
Ja, sie wurden bei den Camps mit ihrer Idee entdeckt, gegen Falschparker vorzugehen. Stop Cham greift eine weitverbreitete Unzufriedenheit auf. Kurz zuvor gab es in Moskau Proteste gegen die illegale Verwendung von Blaulichtern, mit denen Fahrer von Luxusautos Verkehrsregeln umgehen. Die Gruppe klebt riesige Aufkleber auf falsch parkende Autos, ihre Mitglieder provozieren zum Teil gewaltvolle Auseinandersetzungen mit den Fahrern. Das wird alles aufgenommen und auf Youtube hochgeladen. Solche Aktionen bekommen Projektunterstützung, es geht um die Verbreitung von staatlich geförderten Moralvorstellungen.
»In Russland gibt es viel Kritik an Korruption, Umweltverschmutzung und fehlender Infrastruktur. Diese Probleme werden gesehen, aber die meisten, mit denen ich gesprochen habe, glauben nicht daran, dass man strukturell etwas ändern kann.«
Wie stark ist die politische Indoktrination auf den Camps?
Das hat sich über die Zeit immer wieder verändert. Die Camps entstanden nach den Farbrevolutionen in Georgien, der Ukraine und Kirgisien Anfang der nuller Jahre. In Russland wurde daraufhin die kremltreue Jugendbewegung Naschi (die Unsrigen; Anm. d. Red.) gegründet, die sich 2005 das erste Mal am Seligersee in Zentralrussland traf. Daraus ging das Seliger-Sommercamp hervor. Es war zunächst stark politisiert, um den Machterhalt von Präsident Wladimir Putin zu sichern. Nach dem sogenannten Ämtertausch 2008, als Putin für eine Legislaturperiode Ministerpräsident und Dmitrij Medwedjew Präsident wurde, sollte es allen jungen Erwachsenen offenstehen. Der Fokus lag nun auf der Förderung von Unternehmergeist. Das änderte sich dann wieder mit den »Euromaidan«-Protesten in der Ukraine ab Ende 2013 und der Annexion der Krim 2014. Seitdem gibt die föderale Jugendbehörde in Moskau verstärkt propagandistische Materialien heraus, die in den verschiedenen Camps behandelt werden sollen.
In Ihrem Buch über »flexiblen Autoritarismus« erzählen Sie die Geschichte des 2006 ins Leben gerufenen Krasnojarsker Camps Birjussa. Wie war es da?
Die Geschichte von Birjussa ist eng verbunden mit Norilsk Nickel, dem bis heute größten Unternehmen der russischen Bergbauindustrie. Das ehemalige sowjetische Kombinat wurde in den neunziger Jahren privatisiert. Als Putins erste Regierung Anfang der nuller Jahre Gouverneure und Milliardäre entmachtete, sicherte der damalige Manager Aleksandr Chloponin seinen Einfluss. Er wurde neuer Gouverneur und belebte 2005 die sowjetische Tradition der Studentenbrigaden wieder, allerdings in Form von Praktika für junge Erwachsene. Bei einem Treffen der Brigaden entstand die Idee für Birjussa. Die gesamtrussische Politik spielt für die lokalen Gouverneure oft keine so wichtige Rolle. Natürlich wollen sie Loyalität zum Kreml demonstrieren, aber ihnen ist vor allem das Vorankommen ihrer Region wichtig. Und da wurde es auch profitabel, imperial-nationalistische Themen aufzugreifen.
Diese Themen können regionalen Interessen dienen?
Genau. Ich spreche auch von dem Versuch, junge Erwachsene zu Co-Creators einer staatlich geförderten Zivilgesellschaft zu machen. Bestimmte Themen werden von jungen Erwachsenen aufgegriffen, weil dafür gerade Gelder zur Verfügung stehen. Vielleicht teilen die Initiatoren imperiale und konservative Werte, vielleicht aber auch nicht. Die Leute, die ich interviewt habe, wollten vor allem ein »normales Leben« führen, sozial aufsteigen und sich selbst verwirklichen. In einer sich entwickelnden Region zu leben, war für sie wichtiger als der russische Großmachtstatus. So entsteht die Komplizenschaft mit dem autoritären Staat.
Und das stabilisiert Putins Herrschaftssystem?
Der Politikwissenschaftler David Easton hat zwischen diffuser und spezifischer Unterstützung von Regimen unterschieden. Mit Letzterem meinte er die Ordnung, die das politische und ökonomische Leben in einem Staat prägt. In Russland gibt es viel Kritik an Korruption, Umweltverschmutzung und fehlender Infrastruktur. Diese Probleme werden gesehen, aber die meisten, mit denen ich gesprochen habe, glauben nicht daran, dass man strukturell etwas ändern kann. Sie suchen die Schuld für Missstände eher bei Menschen, die sie als passiv oder faul wahrnehmen. Das heißt dann, dass du Korruption schlecht finden und trotzdem die grundlegende politische und ökonomische Ordnung akzeptieren kannst, sie also diffus unterstützen kannst.
»Das ist das autokratische Paradox: Der Staat will die Leute einerseits disziplinieren, andererseits versucht er aber auch, sie zum Mitmachen anzuregen.«
Wieso entsteht aus der Kritik an einzelnen Missständen keine generelle Unzufriedenheit mit dem System?
Zum einen gibt es einen weit verbreiteten Glauben an bestimmte Machtzirkel, die angeblich im Verborgenen agieren und einen systemischen Wandel verunmöglichen. Ein anderer Grund ist bedingungslose Liebe zur Herkunftsregion und gar nicht unbedingt zu Russland im Ganzen. Eine Camperin hat mich gefragt, ob ich Patriotin sei. Als ich das verneinte, meinte sie, in Deutschland müsse man ja keine Patriotin sein, es gehe allen gut und alles funktioniere; aber an einem Ort, wo so viel nicht funktioniere und den viele verließen, werde sich nur etwas ändern, wenn die Menschen patriotisch seien und etwas für den Ort täten.
In Analysen des russischen Systems wird oft die Rolle des Überwachungsstaats der sogenannten Silowiki herausgestellt, der Geheimdienstnetzwerke, denen der ehemalige KGB-Agent Putin seinen Aufstieg zu verdanken hat. Funktioniert der flexible Autoritarismus anders?
Das ist das autokratische Paradox. Der Staat will die Leute einerseits disziplinieren, andererseits versucht er aber auch, sie zum Mitmachen anzuregen. Er braucht talentierte junge Erwachsene für Innovationen. Zwang und Einschüchterung bergen immer die Gefahr, Gegnerschaft hervorzurufen, die dann mit noch mehr Überwachung und Strafen gebrochen werden muss. Eine aktive Bürgerschaft, die zwar mal murrt, aber insgesamt mitmacht, ist zumindest in manchen gesellschaftlichen Teilbereichen effektiver.
Welche Rolle spielt das in der derzeitigen Kriegsökonomie?
Die Rekrutierung von Soldaten geschieht über finanzielle Anreize, es gibt derzeit keine Mobilisierung aller Wehrtüchtigen. Man kann richtig viel Geld verdienen, wenn man in den Krieg zieht. Gleichzeitig werden in den besetzten ukrainischen Gebieten ähnliche Sommercamps für Führungskräfte organisiert und mit dem Slogan »Wir sind zusammen« beworben. Das dient der Aktivierung und führt Putins altes Thema der Einigkeit Russlands fort, in der Abweichler und Oppositionelle außerhalb des als organisch angesehenen russischen Staatsgebildes stehen.
Was müsste passieren, damit die diffuse Unterstützung schwindet und mehr Menschen beginnen, das politisch-ökonomische System in Frage zu stellen?
Ein ökonomischer Bruch ist wahrscheinlicher als ein politischer. Dazu muss es aber nicht nur wirtschaftlich bergab gehen, sondern auch eine Verbreitung von Geschichten geben, die ein Russland ohne Putin als attraktiv erscheinen lassen. Die Frage ist, wohin entwickelt sich das Regime? Es kann sehr gut sein, dass wir gerade die Entstehung einer ganz anderen Form des Autoritarismus beobachten.
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Anna Schwenck ist Soziologin und forscht an der Freien Universität Berlin zu Populärkultur und sozialen Bewegungen. Zuvor koordinierte sie das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Projekt »Popular Music and the Rise of Populism in Europe«. In ihrer Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin erforschte sie, wie in Russland Autoritarismus, Neoliberalismus und die loyale Haltung aufstrebender junger Erwachsener zum Regierungshandeln zusammenhängen. Ihre Monographie »Flexible Authoritarianism: Cultivating Ambition and Loyalty in Russia« wurde von der American Sociological Association mit dem Mary-Douglas-Preis für das beste kultursoziologische Buch des Jahres 2024 ausgezeichnet.